„Ehe für alle“. Kritische Anfragen zu einem ideologischen Konstrukt
Die Forderungen nach „der“ sogenannten „Ehe für alle“ wird in Politik und Medien immer lauter vorgetragen. Wenn solcher Druck aufgebaut wird, müssen kritische Beobachtungen erlaubt sein.
1. Adressaten: Wer ist mit „alle“ gemeint? Konsequenterweise auch Kinder (Pädophilie), Verwandte (Inzest), in Mehrfachbeziehungen Befindliche (Polygamie, Polyamorie)? Geht es nur um sexuelle Beziehungen oder auch um Lebensgemeinschaften ohne sexuelle Praxis? Kriterien für eine Begrenzung von "alle" zu benennen ist nach der erfolgten Ausweitung nicht möglich. Jede Definition und Anwendung von Kriterien erscheint dann als Ausdruck von Diskriminierung.
2. Moralische Argumentation. Die Forderungen nach einer "Ehe für alle" werden mit notwendiger Gerechtigkeit begründet. Gerechtigkeit wird dabei einseitig mit Gleichheit an Möglichkeiten bzw. an Ergebnissen identifiziert. Es ist aber fraglich, ob die Gesetzgebung zur Ehe eine Frage der Gerechtigkeit ist. Es geht vielmehr um die Frage der Nachhaltigkeit im umfassenden Sinne, also nicht darum, wem etwas vorenthalten wird, sondern darum, was langfristig für den Erhalt der Menschheit sachdienlich ist. Sozial ist das, was dem Gemeinwohl dient, nicht die staatliche Unterstützung bzw. Erfüllung jeder denkbaren Handlungsoption. "Frage nicht danach, was der Staat für dich tun kann. Frage danach, was du für den Staat tun kannst" (J.F. Kennedy). Gerechtigkeit hängt nicht an der Gleichförmigkeit der individuellen Lebensverläufe, sondern an der Angemessenheit staatlicher Mitwirkung unter Berücksichtigung individueller Unterschiede. Ungerecht ist nicht nur, wenn Gleiches ungleich behandelt wird, sondern auch wenn Ungleiches gleich behandelt wird.
3. Notwendige Unterscheidungen. Es gibt Parallelen zur Diskussion über Unterschiede der schulischen Laufbahn bzw. des beruflichen Erfolgs. Wer aufgrund abweichender Begabungen für eine Schulart weniger geeignet ist, dafür aber in eher praktischen Bereichen überdurchschnittlich begabt ist, sollte das nicht als Benachteiligung, sondern als Chance begreifen. Das Nichterreichen des Abiturs ist nicht Ausdruck von Diskriminierung. Ähnliches gilt für den Vergleich zwischen Berufsgruppen und deren Akzeptanz. Wenn alle Schüler das Abitur machen, indem man das, was das Abitur bedeutet, einfach anders definiert, ist es nicht mehr dasselbe und verliert seinen Wert. Wenn alle Menschen Ärzte werden, ist die Leistung der tatsächlich begabten Ärzte und die Eigenart dieses Berufsstandes nicht mehr erkennbar. Außerdem verlieren alle anderen Schulabschlüsse bzw. Berufe an Wert, weil unterstellt wird, dass sie nur im uneigentlichen Sinn Abschlüsse oder ehrbare Berufe sind. Angemessen mit Unterschieden umzugehen, heißt dagegen, die Menschen in ihren Unterschieden zu würdigen. Auf die Frage der Ehe übertragen heißt das: Wenn alles Ehe ist bzw. wird, ist nichts mehr Ehe und verliert die Ehe ihre Bedeutung. Umgekehrt verlieren aber auch die bewusst nicht als Ehe gestalteten Lebensformen an Wert und Würdigung, wenn man nicht die offiziell geförderte "Ehe" (im neuen, erweiterten Sinn) eingeht.
4. Geschlechtliche Bipolarität. Naturwissenschaftlich ist nicht zu leugnen, dass die Menschheit in geschlechtlicher Bipolarität, also in der Unterscheidung nach Geschlechtern, existiert. Für die Zeugung von Nachkommenschaft kommen auch homosexuelle Paare nicht ohne Einbeziehung des jeweils anderen Geschlechts (z.B. über Samen- oder Eizellenspende) aus. Erwiesenermaßen brauchen Kinder zu einer stabilen Persönlichkeitsentwicklung feste Bezugspersonen beiderlei Geschlechts. In der Gesetzgebung können solche Unterschiede zwar ignoriert werden. Diese Wirklichkeitsferne erweist allerdings eine Gesetzgebung als ideologisch motiviert, weil sie nicht von Realitäten, sondern von gedanklichen Konstruktionen ausgeht.
5. Staatliche Überregulierung. Niemand hindert in Deutschland Menschen daran, einvernehmlich homosexuelle oder heterosexuelle Kontakte zu pflegen. Allerdings ist die Frage, ob hier wie auch in anderen Bereichen das Fehlen regulierender Eingriffe des Staates eine Ungerechtigkeit darstellt. Die Nicht-Förderung individuellen Verhaltens ist nicht ungerecht. Es ist nicht zu begründen, dass der Staat nur dort, wo es um sexuelle Spielarten menschlichen Verhaltens geht, tätig werden soll, nicht dagegen z.B. Bemühungen im Gesundheitsverhalten oder Zeitmanagement exakt erfasst und honoriert.
6. Postmoderner Sozialismus als Strukturkonservativismus. In den Staaten der westlichen Welt kommt es z.Zt. durch den Linksliberalismus zu einer Umformung des klassischen Sozialismus unter den Vorzeichen der Postmoderne. Das Gleichheitsdenken führt nicht mehr zu einem Kollektivismus, sondern zu einer Gleichordnung, Austauschbarkeit, Beliebigkeit aller nur denkbaren individuellen Lebensentwürfe. Es handelt sich sozusagen um einen individualistischen Sozialismus, um eine radikale Multioptionalität. Die Unterscheidung zwischen Wahrem oder schon nur Lebensdienlichem und daher zu Förderndem und Falschem bzw. weniger Dienlichem wird abgelehnt. So ist die Privilegierung der Ehe, wie sie verfassungsrechtlich verankert ist, seit jeher ein Stein des Anstoßes für die kulturell dominierende Studentenbewegung von 1968. Nicht bleibende Werte mit ihrer Möglichkeit einer Kritik an faktischen Zuständen und Verhaltensweisen sind das Leitbild. Vielmehr werden die Normen an alle denkbaren oder vorkommenden Verhaltensweisen angepasst. Der vermeintlich progressive Ansatz offenbart ein tatsächlich strukturkonservatives Denken, weil alles irgendwie Vorkommende durch die Tatsache seiner Existenz bereits gut und - per Gesetzgebung - normativ ist. Jede kritische Rückfrage wird dagegen als Ausdruck von Hass, Ausgrenzung oder Diskriminierung verunglimpft.
7. Neue Menschenrechte versus alte Menschenrechte. Zunehmend werden sog. neue Menschenrechte (als Durchsetzung der Interessen bestimmter Minderheiten) gegen die alten Menschenrechte (wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit u.s.w.) ausgespielt. Im Namen der "political correctness" werden die traditionellen bürgerlichen Freiheitsrechte eingeschränkt. Zunehmend schwindet die friedliche Koexistenz in einer pluralistischen Gesellschaft, weil Andersdenkende Sanktionen und Repressalien ausgesetzt werden. Die "Ehe für alle" steht entgegen ihrer suggestiven Bezeichnung für Polarisierung statt Versöhnung. In anderen Ländern lässt sich studieren, wie wenig die Gewissensfreiheit solcher Menschen geachtet wird, die sich in ihrer beruflichen Tätigkeit nicht zur Unterstützung homosexueller Partnerschaften zwingen lassen wollen.
8. Selbstwidersprüche der LSBQIT-Bewegung. Entweder ist Homosexualität angeboren und unveränderlich. Dann aber ist die Kernthese der Gender-Mainstreaming-Bewegung falsch, dass sexuelle Orientierungen temporär, veränderlich, gestaltbar, beeinflussbar, frei wählbar und im Lebensverlauf auch auswechselbar sind. Oder der Gender-Gedanke ist richtig. Dann aber kann es weder eine Homo-Ehe noch überhaupt irgendeine Art von längerfristiger Struktur geben. So kritisierte der Homo-Lobbyist David Berger die Gender-Bewegung, weil sie alles für im Fluss befindlich halte, es daher auch keine Homosexualität als Anlage geben könne. Die Vertreter der "Ehe für alle" aus dem linken Spektrum wollen aber beide Thesen gleichzeitig vertreten. Eigentlich geht es ihnen nicht um Homosexuelle; diese werden vielmehr instrumentalisiert, um gegen das alte Feindbild Ehe anzugehen.
Ein anderer Widerspruch betrifft den Gebrauch des Begriffs Minderheit. Vorgeblich setzt man sich für Minderheiten ein. Tatsächlich sind es aber nur ganz bestimmte Minderheiten, die zur eigenen Klientel gehören. Vor allem aber wird der Begriff dort negativ verwendet, wo es um die demoskopisch tatsächlich oder vermeintlich unterlegene Seite geht ("Ihr seid ja nur eine Minderheit"). Von einem Schutz der andersdenkenden Minderheiten will man nichts wissen.
9. Lebensführung als permanenter Prozess des Selbstentwurfs. Leo Trotzki wollte Anarchie durch permanente Revolution. Auf die individuelle Biographie übertragen fordern dies auch linke Strömungen als Leitbild. Die Ehe ist dann nicht mehr Geschenk und dient dem wechselseitigen Schutz bzw. der Unterstützung, sondern wird zu einem austauschbaren und beliebig füllbaren Programm zur Gestaltung mehr oder weniger langer Lebensabschnitte. Wenn die Ehe als etwas für den Menschen Eingesetztes, Geschenktes, aber auch an bestimmte Regeln Gebundenes nicht anerkannt, sondern umdefiniert wird, verliert die Liebe ihren Schutz- und Gestaltungsraum. Die Liebe verselbständigt sich und wird wie die Ehe zu einem Leerbegriff, mit dem alles oder auch nichts begründet werden kann.
Christian Herrmann